LL Aktuell

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Geschichten und andere Geschichten

Tuesday, March 20, 2018

Der Dackel

Sie hatten sich in Zärtlichkeit getrennt. Seine Berührungen hallten noch in ihr nach während sie zu Demo ging. Wie liebevoll er sie angeblickt hatte! Ganz weich war sie innerlich.Viel zu weich. Sauer sollte sie sein! Ihre Gruppe hatte ein Transparent gemalt, in großen roten Buchstaben stand darauf "Nicht mit uns" und ein dickes Ausrufezeichen. Demonstrieren wollten sie, Parolen skandieren, Buh-rufen! Das schien ihr jetzt ganz unmöglich. Jetzt wollte sie lieber vor dem Landtag Blumen niederlegen und singen "where have all the flowers gone“ angesichts der vielen toten Kinder, die in diesem Krieg getötet wurden, getötet - ermordet! Kinder und Eltern, sogar Babies! Sie war ganz verzweifelt und fühlte sich zum heulen.
Sein Hund Dudu lief neben ihr an der Leine. Er hatte ihn ihr mitgegeben, weil er sonst nicht rauskäme. Ganz verbunden fühlte sie sich ihm durch das Tier. So eine liebe Geste, ihr seinen geliebten Zwergpintscher mitzugeben. Damit ging nun ein Teil seiner Liebe an ihrer Seite.  Dudu war ein ältlicher Hund, aber ganz liebevoll, genauso wie er, freundlich und aufgeschlossen und so liebevoll. Ihr wurde noch wärmer ums Herz: wie er mit seinen kleinen Beinchen neben ihr her hopste, grade, dass sein Bauch nicht auf dem Boden schliff. Sie ging neben ihm, in ihrem Wildledermantel wogten ihre Brüste mit jedem Schritt hin und her, und ihre langen, stumpfbraunen Haare bereiteten sich wie ein Wasserfall über ihren Kunstpelzkragen. Sie sah aus als hätte sie jemand aus den 70ern entführt und in die Neuzeit teleportiert.
Anne kam ihr über den Platz vor dem Landtag entgegen, stürmisch, ihre Augen sprühten Funken. Sie war aufgewühlt, sie war wütend, genau die richtige Stimmung für die Demo, sie würde sich mit Schmährufen die Stimme aus dem Leib brüllen! Lea traf sie, bemerkte ihren beschwingten Schritt, sah ihren entflammten Blick - und fiel ihr in die Arme. Keine Begrüßung, kein einziges Wort, presste sie sie an sich und weinte ihr ins Ohr: "die ganzen toten Kinder!" weinte sie, "die Kinder! Es ist so furchtbar!" 
Anne zuckte zurück. Sie erstarrte in den Armen ihrer Freundin. Räusperte sich. Lea heulte weiter. Mit verzweifelten Blicken über ihre Schulter versuchte Anne die anderen zu kontaktieren. Die waren viel zu weit weg! Schließlich klopfte sie ihr ein, zweimal unbeholfen auf den Rücken: "Na na na. Nu komm mal." Sie nahm Lea bei der Hand und zog sie ein paar Schritte Richtung Gruppe, als Lea stehen blieb und in die andere Richtung zog. "Nein, warte," sagte sie und deutete an den Rand des Platzes, "ich will da ein paar Blumen pflücken." Auf einem Grünstreifen am Rande des Platzes wuchsen ein paar Gänseblümchen. "Ich komm gleich." Anne fand das alles sehr skurril, sie ging besser mit. "Was machst du denn da? Lea, geht es dir gut?" Sie wollte ihr die Hand auf die Schulter legen, sie zu sich drehen um ihr in die Augen zu schauen. Lea wäre nicht die erste Pazifistin, die abdreht, wie der Kerl mit der Schirmmütze mit dem Radio und die dicke Alte mit der Gitarre die nach Katzenpisse stank. Drogen in der Szene waren stark verbreitet. Aber Lea lief vorneweg, nuschelte verwirrt "nein nein, alles gut, nur die Gänseblümchen". Den Dackel schleifte sie hinter sich her. Er lief Anne ständig vor die Füße, zweimal musste sie stehen bleiben weil er sie sonst in die Leine eingewickelt hätte. Lea kniete sich auf den Grünstreifen und fing an mit die Blumen zu pflücken, der Hund stets dabei, offensichtlich völlig aus dem Häuschen von den Spuren vieler anderer Hunde. Wo sollten sie auch sonst hinpinkeln? Ein länglicher Streifen Grün mit zwei Bäumen drei Meter breit, acht Meter lang, umgeben von Stein, Beton und Mauern. Anne wurde etwas schlecht als sie Lea beobachtete wie sie die Gänseblümchen pflückte - mit bloßen Händen.
Lea ging das Herz über. Gänseblümchen, das war genau das richtige, keine aufwändigen Blumenkränze oder so, nein, einfach Gänseblümchen, sie waren so ehrlich und lieb und unschuldig, genauso wie die vielen Menschen die gestorben waren. Dudu war ganz nah bei ihr und schnupperte, als müsste er sich ein paar Tränen wegschnüffeln - so ein einfühlsames Tier - hach, sie fühlte sich ihm so verbunden.
Als sie etwa fünfzehn Gänseblümchen hatte, erhob sie sich und nahm die Hundeleine. "Weißt du, wir müssen Blumen niederlegen, für die Trauer," sagte sie, ein bisschen gebrochen, weil sie so bewegt war. "Es geht nicht nur um Wut, es geht um die Menschen, die toten Menschen!"
"Lea, was ist denn mit dir?" Anna konnte sich nicht beherrschen. "Wir müssen kämpfen! Glaubst du diese Schnösel da drin interessiert es wenn wir hier heulen und Blumen niederlegen?" "Aber es sind Menschen gestorben, unschuldige, und sterben immer noch! Wer weint denn sonst um sie?!" Lea war vor den Stufen des Parlaments angekommen. Etwas höher standen mehrerere Bundesgrenzschützler in schwarzer Kampfmontur und blickten steinern. Lea kniete nieder  und legte ihre Blümchen auf die zweite Stufe, alle einzeln, sauber aufgereiht nebeneinander. Die Polizisten beäugten sie. Der eine ging schon einen Schritt auf Lea zu. Das würde Anne nicht zulassen, Lea war vielleicht daneben aber das war ja kein Grund! "He, nu mal langsam," rief sie dem Politzisten zu, "dat sind ja hier keine Nuklearwaffen, dat sin nur een paar Blümchen." "Ja, wir legen Blumen für die Toten, zum Gedenken," rief jetzt auch Lea, ganz beschwingt, dass ihre Freundin sie so solidarisch unterstützte. 
Der Hund verstand das völlig falsch. Lea hatte die Leine niedergelegt als sie die Blumen verteilte. Jetzt sprang er, seiner neuen Freiheit gewahr, auf den Polizisten zu als wäre er ein Würstchen. Das Gesicht des Polizisten verfinsterte sich. "He, Lea, pass ma auf dein Vieh auf,“ rief Anna und trat schnell auf die Leine, "sonst wird der da oben noch - " Aber sie brachte den Satz nicht fertig. Der Dackel war von der Leine zurückgerissen worden. Er stolperte, fiel zur Seite auf die Treppenkannte und rollte zwei Stufen herunter. Dort blieb er liegen. "Naaiiin!!" heulte Lea auf! Wie ein Boje klang sie, "Naiinnn!!!" Jetzt schossen ihr Tränen in die Augen. Mit schriller Stimme rief sie "Was hast du getan?!" und warf sich auf Anna. Mit beiden Fäusten trommelte sie auf Annas Brust ein, und stieß spitze, gellende Schreie aus. "Der Dudu!" schrie sie, "der arme Dudu!" Anna versuchte auf Abstand zu gehen.  "Ja, schau doch" sie versuchte sich zu wehren ohne der armen verwirrten Lea weh zu tun, "dem geht es doch schon wieder gut." Aber Lea hörte nicht, sondern jaulte und trommelte nur weiter. Der blöde Köter machte derweil mit und kläffte im gleichen Rhythmus ihre Wade an.
"He" sagte jetzt der Polizist. Nichts passierte. "HE!" sagte er nochmal mit Nachdruck. Aber gegen die beiden Tölen kam er nicht an. Er ging eine Treppenstufe runter. Die Frau trommelte immer noch auf ihre Freundin ein, und der Hund kläffte dazu. Noch eine Treppenstufe. Sie merkten es garnicht.
Schließlich nickte er seinem Kollegen zu. Beide gingen hinab und stellten sich zwischen die Streitenden. Die erste ließ sich ganz leicht abführen. Der Polizist nahm sie leicht am Arm und begleitete sie Richtung Kundgebung, da ging sie schon allein ohne weitere Aufregung, warf nur noch ein paar skeptische Blicke über die Schulter, bevor sie sich wieder zu ihrer Gruppe trollte.
Die andere, die Heulboje, war etwas schwieriger. Sie hörte einfach nicht auf zu heulen. Der Polizist stellte sich vor sie und legte ihr die Hände auf die Schultern. Dann sagte er laut und deutlich: "Sooo, jetzt beruhigen Sie sich wieder mal, ihrem Hund geht es guuut, es ist alles in Ooordnung, ihre Freundin hat ihm nicht wereh getan, sie wollte sie nur beschützen, sie ist eine guuute Freundin." 
Das mit dem Vokale dehnen hatte er in der Polizeischule gelernt. Jetzt fühlte er sich sehr klug. Die Heulboje beruhigte sich auch glatt während er sprach. Sie heulte noch einmal auf, ein zweites mal und ein letztes, drittes Mal. Ihre Fäuste hatten anfangs noch in der Luft herumgefuchtelt, einen Polizisten schlagen wollte sie aber dann doch nicht. Nach und nach wurden sie langsamer und schließlich ließ sie die Hände sinken. Ein bisschen schniefte sie noch, dann konnte der Beamte sie anblicken. Klare blaue Augen hatte sie. Eigentlich ganz hübsch. Er lächelte aufmunternd, klopfte ihr nochmal leicht auf Schulter. " Na, geht doch schon wieder. Und hier," er bückte sich, "ist auch die Leine von ihrem Hund wieder." Er drückte ihr das Endstück in die Hand.

Der Hund saß auf seinem Hintern und wedelte mit dem Schwanz die ganzen Gänseblümchen von den Stufen. "Ja" sagte Lea, und tätschelte ihn am Kopf. Dann drehte sie sich um und ging.

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