LL Aktuell

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Geschichten und andere Geschichten

Thursday, May 5, 2016

Allohm




Er ist ein Riese - ein riesiger Riese. Also, tatsächlich ist er ein Mensch ganz entgegen der weitläufigen Fachmeinung, die ihn schon für einen Gott hält. Nur zwei Meter zwanzig groß. Er geht mit weit aufgerissenen Augen durch sein spartanisch eingerichtetes Haus und spricht den ganzen Tag kein Wort. Er ist ein Window-Viewer. Die Firma Kotzebue hatte ihn vor Jahren angestellt. Sie stellt Katzenstreu her. Herr Orzechowski nun hat die alleinige Aufgabe, grandiose neue Erfindungen zu erdenken, die dem Katzenkotkonzern Millionen bringen.
Er spricht nur wenn ihm etwas Gutes einfällt, das sich zu produzieren lohnt, das völlig neu ist und funktioniert. 99 Prozent der Zeit ist er also völlig stumm. Tag und Nacht, Woche um Woche. Wenn er dann aber etwas sagt, ist es bahnbrechend. Was er schon alles erfunden hat. Katzenstreu-Klumpenbildung zum Beispiel. Stammt von ihm.
Weil Herr Orzechowski ungelenkt erdenkt, ist die Firma bald dazu übergegangen, seine Fremdideen teuer zu verkaufen. Papier an dem man sich nicht schneidet hat er erfunden, Knubbel an Folienstiften, damit sie nicht vom Tisch kullern. Und so profitiert ein immer größer werdendes Netzwerk von Firmen von Herrn Orzechowski. Eine Firma hat vor lauter Übermut ihre eigene Kreativabteilung komplett eingestellt, nachdem ein ferngesteuertes Fahrradschloss ihnen kurzzeitig die Marktführerschaft verschaffte. Ein großer Fehler. Nie mehr danach erfand Orzechowski im Fahrradbereich. Stattdessen erfand er krümelfreies Knäckebrot.
Sein Haus ist fast leer. Nur sechs Möbelstücke stehen darin. Ein Bett, ein Schrank, eine Küchenzeile, ein Sessel, ein Küchenstuhl und ein kleines rundes Tischchen mit türkisenen Mosaiksteinchen. Dafür sind überall Fenster. Aus denen blickt er hinaus, mit weit aufgerissenen Augen. Er starrt geradezu, als ob da draußen gerade ein Meteor einschlüge. Tut er aber nicht. Orzechowski starrt trotzdem. Und sagt kein Wort. Häufig sitzt er im Sessel. Oder er steht. Nachts schläft er und manchmal geht er spazieren. Alles völlig stumm.
Er hat eine Helferin und eine Putzfrau. Die Putzfrau sagt auch kein Wort, spezielle Anweisung von Kotzebue. Die Helferin dagegen sagt sehr viel, auch eine Anweisung von der Firma. Sie soll ihn so zum Reden zu animieren. Also spricht sie von Marktanteilen und Trends. Häufig liest sie ihm aber nur aus Klatschkolummnen vor.
Eine zierliche, blonde Person mit Kurzhaarschnitt ist sie, die Frau Allohm. Ihre Stimme ist hoch und fiepsig. Herr Orzechowski hatte sie gewählt durch einen Fingerzeig im Bewerbungscenter, wo zwanzig junge Herren und Damen aufgereit nebeneinander standen. Er hatte ihre Stimme vorher nicht gehört. Vielleicht ein Fehler. Aber er beschwert sich nicht.
Ab und an kommt ein Vertreter von Kotzebue vorbei, der ununterbrochen redet. Er drängt auf den Erfinder ein, bestürmt ihn. „Die Absätze gehen zurück,“ sagt er. Er wedelt mit den Händen. „Wir brauchen neue Produkte! Die Marktposition der Firma!“ Orzechowski steht am Fenster, eine Tasse in der Hand. Er dreht dem Vertreter den Rücken zu und starrt mit weit aufgerissenen Augen in die graue Ödnis draußen. Der Vertreter fasst ihn am Arm, stellt sich auf die Zehenspitzen, reckt sich dem Riesen entgegen. Orzechowski reagiert nicht, wirklich gar nicht, er zuckt nicht, dreht sich nicht um, nicht mal blinzeln tut er. Um die ganze Szene schwirrt Frau Allohm wie ein Kolibri. Sie ist hilflos, will den Vertreter abbringen. „Das bringt nichts, er redet nie,“ piepst sie, „nie sagt er etwas!“
Dann führt sie den Gast unverrichteter Dinge hinaus, reicht ihm ein Glas Wasser, redet, beruhigt, verabschiedet. Eigentlich ist sie völlig überflüssig.
Sie muss keinen Papierkram erledigen, weil keiner anfällt. Sie muss nicht kochen, weil er nur Brot isst. Sie muss nicht mal aufschreiben, was er sagt, weil das ganze Haus verwanzt ist. Frau Allohm hat nur eine Aufgabe, aber die ist so außerordentlich, dass sie 24 Stunden anwesend sein muss. Aufpassen, dass Orzechowski lebt.
Kotzebue zahlt ein horrendes Gehalt für den schweigsamen Riesen. Da wäre einmal der monatliche Lohn – wir wollen nicht über Zahlen reden, aber er war teuer, sauteuer, der Herr Orzechowski. Und dazu Erfinderanteil für jede vermarktete Idee, für jeden Knubbelstift, jedes Knäckebrot und jeden Sack verkauftes Katzenstreu. Also passt Frau Allohm auf, dass er nicht stirbt; bewusstlos auf dem Boden liegt und an seinem Erbrochenen erstickt; bei einem Feuer verbrennt. Oder vergiftet wird von einem eifersüchtigen Konkurrenten.
Das wäre beinahe einmal passiert – da bekam Herr Allohm einen Geschenkkorb mit lauter guten Sachen, Milch, Brot, Käse und einem Brotaufstrich Aubergine-Soja und Strichnyn. Er spuckte den Großteil aus, der Rest aber wanderte die Kehle hinunter. Gerettet wurde er überhaupt nur weil an dem Tag die Putzfrau kam. Seither ist Frau Allohm bei ihm.

Nun spricht er aber plötzlich noch weniger. Über ein halbes Jahr schon! Kein Wort. Kotzebue macht sich Gedanken über Orzechowskis Zukunft. Ist er eine Fehlinvestition? Abschaffen fordert die eine Hälfte der Manager, in ihren Konferenzräumen und Anzügen mit ihren Anglizismen wie auscashen und fubar, fucked up beyond repair, also total im Arsch. „Der erfindet doch eh nix mehr, der is fubar!“ sagen sie. „Behalten!“ sagt die andere Hälfte der Manager:„Es geht ums Immetsch! Der ist ein Prestigeobjekt!“ Wenn die Konkurrenz das rauskriegt, und die kriegt das raus die Konkurrenz, dass der Orzechowski weg ist, dann denken die ja: die können sich den nicht mehr leisten! Die sind pleite! Und überhaupt, wahrscheinlich brütet er gerade jetzt über was ganz besonders Tollem!
So streiten sie. Derweil wird Herr Orzechowski immer reicher, und gibt kaum etwas aus für seine spartanische Lebensweise.

Bis er dann doch spricht. Nur nicht so, wie sie es wollen, die Manager. Eines Tages kommt ein Postbote vorbei mit einem Einschreiben. Orzechowski liest es und da öffnet er den Mund! Frau Allohm erstarrt. Gleich kommt die nächste bahnbrechende Idee, die vielleicht jeder Haushalt im Land haben will! Was mag es sein? Er holt Luft, und seine Lippen formen Worte: „Ich kündige.“ Damit hat Frau Allohm nicht gerechnet. Perplex sagt sie nichts. Orzechowski auch nicht. Er packt stattdessen einen Koffer und geht. Frau Allohm wusste nicht mal, dass er einen Koffer hatte. Kurz vor der Haustür bleibt er noch einmal stehen. Frau Allohm sitzt auf einem Küchenstuhl. Orzechowski dreht sich, blickt sich im Haus um, bleibt an ihr hängen. Dieses sanfte Wesen, das vielleicht ein bisschen dumm ist, aber doch so lange dauernd bei ihm war und so schön vorgelesen hat. Nach etwa einer Minute gucken wird er ein bisschen rot, dreht sich um und geht.
Die Manager jetzt natürlich total fubar, als sie dann kommt, die Kündigung. Abgeschickt von einer Anwaltskanzlei. Alles total unantastbar. Nix kann man dagegen machen. Und der große, dünne Erfinder selbst verschwunden und keiner weiß, wohin. Aus reiner Wut schmeißen sie als allererstes Frau Allohm raus.
Was jetzt aber in dem Einschreiben stand, das haben sie doch rausbekommen, die Manager, bei einem Businessmeeting von Managern und Bankkerl. Da hat der Bankkerl dem Managerkerl dann gesagt, was in dem Brief stand. Auswendig hat er das gewusst:

„Sehr geehrter Herr Orzechowski,

Sie haben uns gebeten Sie zu benachrichtigen, sobald ihr Kontostand mehr als zehn Millionen Euro beträgt. Dies tun wir hiermit.“

Völlig unbemerkt von den Herrn Managern bleibt jedoch eine kleine Notiz in einer Klatschkolummne. Frau Allohm hätte sie ihnen vorlesen können, aber sie arbeitet jetzt irgendwo als Vorleserin im Ausland. In der Kolumne, unter Vermischtes steht, dass in Thailand ein riesengroßer Mann seit Monaten jeden Tag vor einem Hotel mit Glasfassade steht. An einem traumhaften, weißen Sandstrand steht er dort täglich von morgens früh bis abends spät und schaut das Meer an. Wenn es regnet, steht er drin und schaut hinaus. Kein Mensch weiß warum, und er sagt auch kein Wort. Sie hätten ihn dort eh nicht verstanden. Herr Orzechowski kann kein Thailändisch.

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