Er ist ein Riese - ein riesiger Riese. Also,
tatsächlich ist er ein Mensch ganz entgegen der weitläufigen Fachmeinung, die
ihn schon für einen Gott hält. Nur zwei Meter zwanzig groß. Er geht mit weit
aufgerissenen Augen durch sein spartanisch eingerichtetes Haus und spricht den ganzen
Tag kein Wort. Er ist ein Window-Viewer. Die Firma Kotzebue hatte ihn vor
Jahren angestellt. Sie stellt Katzenstreu her. Herr Orzechowski nun hat die
alleinige Aufgabe, grandiose neue Erfindungen zu erdenken, die dem
Katzenkotkonzern Millionen bringen.
Er spricht nur wenn ihm etwas Gutes einfällt, das sich
zu produzieren lohnt, das völlig neu ist und funktioniert. 99 Prozent der Zeit
ist er also völlig stumm. Tag und Nacht, Woche um Woche. Wenn er dann aber
etwas sagt, ist es bahnbrechend. Was er schon alles erfunden hat.
Katzenstreu-Klumpenbildung zum Beispiel. Stammt von ihm.
Weil Herr Orzechowski ungelenkt erdenkt, ist die Firma
bald dazu übergegangen, seine Fremdideen teuer zu verkaufen. Papier an dem man
sich nicht schneidet hat er erfunden, Knubbel an Folienstiften, damit sie nicht
vom Tisch kullern. Und so profitiert ein immer größer werdendes Netzwerk von
Firmen von Herrn Orzechowski. Eine Firma hat vor lauter Übermut ihre eigene
Kreativabteilung komplett eingestellt, nachdem ein ferngesteuertes
Fahrradschloss ihnen kurzzeitig die Marktführerschaft verschaffte. Ein großer
Fehler. Nie mehr danach erfand Orzechowski im Fahrradbereich. Stattdessen erfand
er krümelfreies Knäckebrot.
Sein Haus ist fast leer. Nur sechs Möbelstücke stehen
darin. Ein Bett, ein Schrank, eine Küchenzeile, ein Sessel, ein Küchenstuhl und
ein kleines rundes Tischchen mit türkisenen Mosaiksteinchen. Dafür sind überall
Fenster. Aus denen blickt er hinaus, mit weit aufgerissenen Augen. Er starrt geradezu,
als ob da draußen gerade ein Meteor einschlüge. Tut er aber nicht. Orzechowski
starrt trotzdem. Und sagt kein Wort. Häufig sitzt er im Sessel. Oder er steht.
Nachts schläft er und manchmal geht er spazieren. Alles völlig stumm.
Er hat eine Helferin und eine Putzfrau. Die Putzfrau sagt
auch kein Wort, spezielle Anweisung von Kotzebue. Die Helferin dagegen sagt
sehr viel, auch eine Anweisung von der Firma. Sie soll ihn so zum Reden zu
animieren. Also spricht sie von Marktanteilen und Trends. Häufig liest sie ihm
aber nur aus Klatschkolummnen vor.
Eine zierliche, blonde Person mit Kurzhaarschnitt ist
sie, die Frau Allohm. Ihre Stimme ist hoch und fiepsig. Herr Orzechowski hatte
sie gewählt durch einen Fingerzeig im Bewerbungscenter, wo zwanzig junge Herren
und Damen aufgereit nebeneinander standen. Er hatte ihre Stimme vorher nicht
gehört. Vielleicht ein Fehler. Aber er beschwert sich nicht.
Ab und an kommt ein Vertreter von Kotzebue vorbei, der
ununterbrochen redet. Er drängt auf den Erfinder ein, bestürmt ihn. „Die
Absätze gehen zurück,“ sagt er. Er wedelt mit den Händen. „Wir brauchen neue
Produkte! Die Marktposition der Firma!“ Orzechowski steht am Fenster, eine
Tasse in der Hand. Er dreht dem Vertreter den Rücken zu und starrt mit weit aufgerissenen
Augen in die graue Ödnis draußen. Der Vertreter fasst ihn am Arm, stellt sich
auf die Zehenspitzen, reckt sich dem Riesen entgegen. Orzechowski reagiert
nicht, wirklich gar nicht, er zuckt nicht, dreht sich nicht um, nicht mal
blinzeln tut er. Um die ganze Szene schwirrt Frau Allohm wie ein Kolibri. Sie
ist hilflos, will den Vertreter abbringen. „Das bringt nichts, er redet nie,“
piepst sie, „nie sagt er etwas!“
Dann führt sie den Gast unverrichteter Dinge hinaus,
reicht ihm ein Glas Wasser, redet, beruhigt, verabschiedet. Eigentlich ist sie
völlig überflüssig.
Sie muss keinen Papierkram erledigen, weil keiner
anfällt. Sie muss nicht kochen, weil er nur Brot isst. Sie muss nicht mal
aufschreiben, was er sagt, weil das ganze Haus verwanzt ist. Frau Allohm hat
nur eine Aufgabe, aber die ist so außerordentlich, dass sie 24 Stunden anwesend
sein muss. Aufpassen, dass Orzechowski lebt.
Kotzebue zahlt ein horrendes Gehalt für den
schweigsamen Riesen. Da wäre einmal der monatliche Lohn – wir wollen nicht über
Zahlen reden, aber er war teuer, sauteuer, der Herr Orzechowski. Und dazu
Erfinderanteil für jede vermarktete Idee, für jeden Knubbelstift, jedes
Knäckebrot und jeden Sack verkauftes Katzenstreu. Also passt Frau Allohm auf,
dass er nicht stirbt; bewusstlos auf dem Boden liegt und an seinem Erbrochenen
erstickt; bei einem Feuer verbrennt. Oder vergiftet wird von einem
eifersüchtigen Konkurrenten.
Das wäre beinahe einmal passiert – da bekam Herr
Allohm einen Geschenkkorb mit lauter guten Sachen, Milch, Brot, Käse und einem
Brotaufstrich Aubergine-Soja und Strichnyn. Er spuckte den Großteil aus, der
Rest aber wanderte die Kehle hinunter. Gerettet wurde er überhaupt nur weil an
dem Tag die Putzfrau kam. Seither ist Frau Allohm bei ihm.
Nun spricht er aber plötzlich noch weniger. Über ein
halbes Jahr schon! Kein Wort. Kotzebue macht sich Gedanken über Orzechowskis
Zukunft. Ist er eine Fehlinvestition? Abschaffen fordert die eine Hälfte der Manager,
in ihren Konferenzräumen und Anzügen mit ihren Anglizismen wie auscashen und fubar,
fucked up beyond repair, also total im Arsch. „Der erfindet doch eh nix mehr,
der is fubar!“ sagen sie. „Behalten!“ sagt die andere Hälfte der Manager:„Es
geht ums Immetsch! Der ist ein Prestigeobjekt!“ Wenn die Konkurrenz das
rauskriegt, und die kriegt das raus die Konkurrenz, dass der Orzechowski weg
ist, dann denken die ja: die können sich den nicht mehr leisten! Die sind
pleite! Und überhaupt, wahrscheinlich brütet er gerade jetzt über was ganz
besonders Tollem!
So streiten sie. Derweil wird Herr Orzechowski immer
reicher, und gibt kaum etwas aus für seine spartanische Lebensweise.
Bis er dann doch spricht. Nur nicht so, wie sie es
wollen, die Manager. Eines Tages kommt ein Postbote vorbei mit einem
Einschreiben. Orzechowski liest es und da öffnet er den Mund! Frau Allohm erstarrt.
Gleich kommt die nächste bahnbrechende Idee, die vielleicht jeder Haushalt im Land
haben will! Was mag es sein? Er holt Luft, und seine Lippen formen Worte: „Ich
kündige.“ Damit hat Frau Allohm nicht gerechnet. Perplex sagt sie nichts. Orzechowski
auch nicht. Er packt stattdessen einen Koffer und geht. Frau Allohm wusste
nicht mal, dass er einen Koffer hatte. Kurz vor der Haustür bleibt er noch
einmal stehen. Frau Allohm sitzt auf einem Küchenstuhl. Orzechowski dreht sich,
blickt sich im Haus um, bleibt an ihr hängen. Dieses sanfte Wesen, das
vielleicht ein bisschen dumm ist, aber doch so lange dauernd bei ihm war und so
schön vorgelesen hat. Nach etwa einer Minute gucken wird er ein bisschen rot, dreht
sich um und geht.
Die Manager jetzt natürlich total fubar, als sie dann
kommt, die Kündigung. Abgeschickt von einer Anwaltskanzlei. Alles total
unantastbar. Nix kann man dagegen machen. Und der große, dünne Erfinder selbst
verschwunden und keiner weiß, wohin. Aus reiner Wut schmeißen sie als
allererstes Frau Allohm raus.
Was jetzt aber in dem Einschreiben stand, das haben
sie doch rausbekommen, die Manager, bei einem Businessmeeting von Managern und
Bankkerl. Da hat der Bankkerl dem Managerkerl dann gesagt, was in dem Brief
stand. Auswendig hat er das gewusst:
„Sehr geehrter Herr Orzechowski,
Sie haben uns gebeten Sie zu benachrichtigen, sobald
ihr Kontostand mehr als zehn Millionen Euro beträgt. Dies tun wir hiermit.“
Völlig unbemerkt von den Herrn Managern bleibt jedoch
eine kleine Notiz in einer Klatschkolummne. Frau Allohm hätte sie ihnen vorlesen
können, aber sie arbeitet jetzt irgendwo als Vorleserin im Ausland. In der
Kolumne, unter Vermischtes steht, dass in Thailand ein riesengroßer Mann seit
Monaten jeden Tag vor einem Hotel mit Glasfassade steht. An einem traumhaften,
weißen Sandstrand steht er dort täglich von morgens früh bis abends spät und schaut
das Meer an. Wenn es regnet, steht er drin und schaut hinaus. Kein Mensch weiß
warum, und er sagt auch kein Wort. Sie hätten ihn dort eh nicht verstanden. Herr
Orzechowski kann kein Thailändisch.
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