F. Herb geht die Straße entlang.
Er ist ein kleiner, braunhaariger Mann mit gepflegtem Schnauzer und
Teddy-Augen. Er geht gemächlich, ohne Eile. Sein Gesicht ziert ein verträumtes
Lächeln. Wie er da so entlanggeht, führt ihn sein Weg zu einem Kiosk, an dessen
Auslage es blitzt. Eine kleine, in farbige Aluminiumfolie gewickelte
Schokoladenfigur steht dort und reflektiert das bißchen Sonnenlicht, dass sich
in die Straßenschluchten verirrt hat. Darunter ist ein Schildchen angebracht,
auf dem drei Zahlen stehen. Eins neunundneunzig steht da, neben eins fünfzig
und Null Komma Fünfzig. Eins neunundneunzig und eins fünfzig sind
durchgestrichen. F. Herb kauft den reduzierten Schokonikolaus. Dann geht er
weiter, dorthin, wo er eigentlich hinwollte, zum Kindergarten. Es ist zwei Uhr
sieben, als er vor dem buntbemalten Gartenzaun ankommt. Im Haus dahinter toben
die Nachmittags-Kinder. Die Tür geht auf und lässt den Lärm kurz doppelt so
laut werden. Dann schließt sich die Tür wieder und die Welt scheint plötzlich
sehr still. Sogar hört man die eiligen Schritte einer blonden Hünin, die den
kiesgesäumten Weg entlangläuft. Sie ist beinahe zwei Meter groß, ein Meter
neunzig bestimmt. Sie beugt sich herab und küsst F. Herb. Dabei kneift sie eine
seiner Pobacken. Die Kinder können es durch die Fenster nicht sehen, weil F.
Herb mit dem Rücken zur Straße steht. Aber alle Autofahrer können es sehen. Zum
Dank schenkt er ihr den Schokonikolaus.
Auch die Hünin hat ein Geschenk
für F. Herb, eine rote Papierblume, die ihre Kindergartenkinder gebastelt
haben. Er steckt sie in ein Knopfloch und sie gehen die Straße weiter. F. Herb geht
wie ein Pinguin. Wahrscheinlich liegt es daran, dass er als Kind so viele Charly
Chaplin Filme gesehen hat, zusammen mit seinem Vater. Ein dicker, untersetzter
Mann mit Schnauzer – so wie F. Herb nur dicker. Wenn er lachte, versprühte er
eine Fontäne von Kuchenkrümeln. F. Herbs Mutter war eine begnadete Bäckerin.
Der Vater lachte häufig, wenn er Chaplin sah. Auch heute noch hat F. Herb Lust
auf Apfelkuchen, wenn er „Der große Diktator“ sieht. Aber heute gibt es keinen
Chaplin-Film. Und keinen Apfelkuchen. Heute gibt es etwas anderes zu Essen.
„Was gibt es denn?“, fragt die Hünin F. Herb. „Wird nicht verraten“, antwortet
F. Herb. „Das ist eine Überraschung.“
F. Herb und die Hünin gehen heim.
Sie geht ins Wohnzimmer und schaltet den Fernseher ein, er geht in die Küche.
Alles ist ruhig bis auf das künstliche Gelächter von der Sitcom, die die Hünin
sieht. Plötzlich ertönt ein Gewehrschuss aus der Küche. Sie erschrickt. Dann
noch einer. „Schatz, komm schnell!“ ruft F. Herb. Sie stürzt in die Küche wo es
gerade wieder knallt, und sieht, wie Popcorn aus einem offenen Topf auf dem Gasherd
durch die Küche fliegt – mehr und immer mehr, bis sich das Gewehrfeuer zu einer
Salve steigert. F. Herb steht an der Seite, die Hände vor dem Schoß gefaltet.
„Für dich Schatz, weil wir zu Sylvester keines hatten: Dein Feuerwerk.“
Der Gesichtsausdruck der Hünin
zerschmilzt von erschrockener Besorgnis zu glücklicher Ergriffenheit. „Ohhhh“,
seufzt sie gerührt. Sie umarmen sich ganz fest, und geben sich noch ein Kuss.
Es ist ein langer, zärtlicher Kuss, voller Verbundenheit und Wärme. Die
Vorhänge über der Spüle fangen Feuer. F. Herb und die Hünin bemerken es nicht,
sie stehen aus einem Hagel aus heißem Popcorn, das nach Vanille und Fett
riecht. Dann bemerken sie es aber doch. Mit einem „Wusch“ gehen die Vorhänge
komplett in Flammen auf. Die Hünin lässt einen Schrei aus. Also ist sie doch
wieder erschrocken und besorgt. Dann stürzt sie aus der Küche. F. Herb bleibt
zurück, legt den Kopf schief und sagt: „Die Vorhänge brennen. Ich weiß jetzt
nicht, was Rousseau dazu sagen würde.“ F. Herb ist nämlich Philosoph. Zur Zeit
ließt er wieder die gesammelten Werke Rousseaus, Band drei. Da stürzt die Hünin
wieder zurück in die Küche und löscht den Brand mit dem Feuerlöscher. Es ist
ein atemberaubender Auftritt. Eins neunzig groß, breite Schultern, blaue Augen,
wehende blonde Haare. Sie schwingt den Feuerlöscher mit kräftigen Armen und
sprüht weißen Schaum entschlossen auf die Vorhänge, den Herd, das Fenster. Wenn
du einmal einen Amazonenfilm drehen möchtest, musst du sie unbedingt besetzen.
Am besten gibst du ihr einen klingenden Namen, wie Towanda, oder einen
nordischen, kernigen, wie Klothildur.
F. Herb steht derweil dabei und
beobachtet fasziniert seine Hünin. In seinem Kopf spielt Wagners Walkürenritt.
Er überlegt, wie eine Gesellschaft wohl aussehen möge, die von solchen Frauen
regiert wird. Männer wie er wären dann zur Hausarbeit und Kinderpflege
abkommandiert, sie würden Staubwischen und Schnittblumen dekorativ in Vasen
stellen, während die Walküren an großen, schweren Eichentischen säßen, Bier aus
großen Humpen tränken und über Angriffskriege und feindliche Übernahmen
sprächen. Bis er zu Ende philosophiert, brennt schon nichts mehr. Philosophen
sind zum Feuerlöschen einfach nicht gemacht.
Eine Woche später ist vom
Popcorn-Feuerwerks-Unglück nichts mehr zu sehen in der Küche. Die Vorhänge wurden
ausgetauscht, ebenso wie der Satz Plastik-Kochgeschirr, der beim Herd hing und
beim Brand verschmorte. „Eine Suppenkelle, die geformt ist wie ein
Fragezeichen?“, sagte F. Herb beim Begutachten des Schadens. „Nein, so etwas
kann man nicht gebrauchen.“ „Ja“, sagte die Hünin und nahm ihm den verschmorten
Plastiklöffel ab. „Wir kaufen einfach einen neuen.“ Jetzt hängt ein neuer neben
dem Herd, diesmal aus Edelstahl. „Da kaufen wir dann auch einen neuen
Pfannenwender, einen Schneebesen und einen Schaumlöffel aus Edelstahl“ erklärte
die Hünin resolut, als sie beim Einkaufen in der Haushaltswarenabteilung eines
großen Kaufhauses standen. „Wie sieht denn das sonst aus.“ F. Herb widersprach
nicht, und so findet bald darauf ein Obdachloser einen Pfannenwender, einen
Schneebesen und einen Schaumlöffel aus Plastik in der Mülltonne der Herbs. Weil
aber ein Obdachloser nie kocht, wirft er sie wieder zurück.
Suppenkellen und Vorhänge kann
man ersetzen. Leider geht aber der Gestank von verschmortem Plastik nie wieder
ganz aus der Küche raus. Es war ja nicht nur das Kochbesteck aus Plastik, die
Vorhänge waren ja auch aus Nylon. Sie lüften, bis ihnen fast die Zehen
abfrieren, und F. Herb stellt Potpourri auf. Erfolglos. Es riecht weiterhin nach
verschmortem Plastik, durchzogen mit Rosenduft. Weil Hünin und Philosoph es
nach ein paar Monaten satt haben, ständig an den Brand zu denken, wenn sie in
der Küche stehen, entschließen sie auszuziehen. Sie suchen sich eine nette
kleine Wohnung am anderen Ende der Stadt, dreieinhalb Zimmer, Souterrain. Zum
Einzug essen sie Popcorn und sehen Sitcoms. Das Popcorn stammt aus der
Mikrowelle. Sicherheitshalber.
In der Wohnung bleibt nichts
zurück bis auf den Plastikgeruch und eine zerlesene Ausgabe von Rousseaus
gesammelten Werken, Band 4. F. Herb hatte sie zum Abstützen seines
Schreibtisches benutzt. Beim Auszug war es einfach auf dem Boden im Eck liegen
geblieben und vergessen worden. Der Nachmieter – ein ganz unphilosophischer, 32-jähriger
Kopiererreparierer – findet es das Buch, blättert es durch, und wirft es
gelangweilt in die Tonne, in der auch das Plastik-Kochbesteck landete. Dort
fischt es eben jener Obdachlose wieder heraus, der zuvor die Suppenkellen
verschmähte. Diesmal nimmt er den Fund an sich.
In seinem kleinen Pappkarton-Burg unter einer
Brücke liest er Kapitel um Kapitel, sehr interessant findet er die Lektüre. Alle Probleme und Aufgaben die sich der Gemeinschaft stellen werden von der Gemeinschaft gemeinsam besprochen und zwar so lange, bis sich eine Lösung für alle findet. Auch hartnäckiger Plastikgeruch
nach Bränden in Küchen. „Wenn es in einer Küche unbändiger Plastikgeruch
vorherrscht nachdem die Vorhänge abgebrannt sind, möge sich die
Hausgemeinschaft geschlossen zusammensetzen und beraten, was zu tun sei“, resümiert der Obdachlose. „Sie mögen eine einstimmige Entscheidung fällen, darüber, ob die Wohnung
zu renovieren sei oder besser alle Vorhänge in allen Räumen abgebrannt werden,
um eine gleichmäßige Geruchsbelästigung zu erreichen. Sodann bestimmen sie
einen aus ihrer Mitte, der den Entschluss umsetze und nach Vollzug wieder
vorspreche über den Erfolg.“ Philosophen sind bei Bränden einfach nicht zu
gebrauchen.
2 comments:
Das ist eine schöne Geschichte.
Ich mag den Helden.
dV
Kopiererreparierer....chihihi
Schön!
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