LL Aktuell

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Geschichten und andere Geschichten

Saturday, July 7, 2012

Neben Sachen

Lasst uns über Nebensachen sprechen. Was sind Nebensachen? Dinge neben Sachen. Was sind Sachen?

Sachen sind die ganz großen Dinge. Eine Sache ist zum Beispiel:
der Chef, der Freitag nachmittag dasteht und sagt:
ICH!
BRAUCHE!
DIESE!
ZAHLEN!
JETZT!

Dieser Chef ist böse und alles. Er versaut dir den frühen Feierabend. Du kommst um kurz nach sechs aus der Arbeit, zehn Minuten nachdem die Reinigung schließt, die dein Lieblingskleid für dich gewaschen hat.  Zu dem Date musst du also deinen Ersatzrock tragen, der an sich ganz schön ist, aber auf Teufel komm raus nicht zu den neuen Schuhen passt. Du ziehst notgedrungen die alten Latschen an mit den abgelaufenen Sohlen. Während des Tanzens prallst du unvermeidlich dauernd wie ein Elefant im Prozellanladen in deinen Traumpartner, bis dieser mit einem faustgroßen Bluterguss am Schienbein von der Tanzfläche humpelt. Er meldet sich nie wieder. Die Tanzprüfung fällt daraufhin ins Wasser. Völlig frustriert tanzt du nie wieder, weder konkret noch auf Wolke Sieben. Auf deiner Beerdigung wird keine Musik gespielt. Der Priester sagt traurig: "Mit Musik hat ihr Untergang begonnen," und alle weinen.

Das sind so Sachen. Sachen, die dir das Genick brechen, wenn es nicht die Nebensachen gäbe.

Der Donnerstag vor vier Wochen war voller Sachen. Ich stürzte mich auf sie wie ein Sumoringer auf einen Hobbit, in völliger Überzeugung des baldingen Sieges. Nach der zehnten, zwölften, zwanzigsten Sache sehnte ich mich nach Zucker in seiner schönsten Form, nach Schokolade. Meine Finger waren vom Hacken ganz taub geworden, mein Ohr war wund vom Telefon-Quetschen, meine Lippen aufgesprungen vom nervösen Draufbeißen. Aber neben mir saß ja Verena, die meinen verzweifelten Ruf nach Schokolade mit einem heißen Kakao aus dem fünften Stock beantwortete - unaufgefordert, kostenlos und mit einem Lächeln.

Selbst meine Heimatstadt in all ihrer Schönheit kann eine Sache werden, die mir sauer aufschlüge ohne das Zeug neben den Sachen. Dreißig Minuten Staufahrt für fünfzehn Minuten Strecke, Hagelschauer wenn du aussteigen musst, Beschwerden deiner Mitfahrer weil du in sie rempelst beim Einsteigen in eine U-Bahn, die in zwanzig Sekunden abfährst. Selbst München würde untergehen ohne SMS in denen steht: "Ich bin so froh, dass du wieder da bist. Knuddel dich!"

Überhaupt: wie sollte man "es" aushalten ohne Nebensachen? "Es", dieses große, bösartige Leben, dass dir einmal Steine in den Weg schmeißt, dann Lorbeeren auf deinen Kopf zieht und dann doch wieder die Tentakel rausholt und dich in die Tiefe zieht wie der Große Kraken die Black Pearl in Fluch der Karibik? Wie könnte ich es schaffen, ohne Hunger schlafen zu gehen, wenn Nick mir nicht seine Erdbeeren übrig gelassen hätte?

Garnicht.

Acht Buchstaben und ein Punkt, nochmal zum Mitlesen: Garnicht. Garnicht könnte ich das.

Aber es gibt sie, die Dinge neben den Sachen:

Verena sitzt immer noch in meiner Nähe und schenkt mir - wenn nicht Kakao - dreimal täglich ein strahlendes Lächeln.

Die Freundin, die mir die SMS schrieb, ist seit kurzer Zeit aus Schottland wieder zurück. Sie schrieb mir eine Karte, die mir das Herz lächeln macht. Nach langen und komplexen Terminabsprachen treffe ich sie Montag, um sie live in die Arme schließen zu können, nach und neben der Sache Arbeit.

Die Schale Erdbeeren steht leergefressen neben mir, genauso wie die Thermostasse, in der noch ein kleiner Schluck Kaffee war von heute nachmittag.

Es wird Zeit, ins Bett zu gehen. Es wird Zeit, Sachen loszulassen. Es wird Zeit zu schauen, was neben Sachen steht.

1 comment:

dV said...

Ach!
wie schön...