Unweit von den schönen Feldern zwischen dem Sportzentrum und der Universität lebt das Albinoschwein. Dort wo sich Hasen tummeln, dort in der Nähe von vielen Rehen und manchmal einem Fuchs und mal einem Falken lebt es unter den Bäumen des botanischen Gartens und stöbert sich durch die Gegend. Bevorzugt liegt es unter einer Hecke Richtung Straße und man sieht von seinem gewaltigen weißen Körper nur den Kopf mit dem langen zuckenden Rüssel.
Das faule Schwein
Es liegt dort im Herbst mal für eine ganze Woche unbeweglich unter dieser Hecke hinter dem Botanischen Garten Richtung Straße, und dort liegt es weil es dort besonders gute Pilzplätze gibt. Besonders schön ist es im Übergang zwischen Sommer und Herbst, wenn es noch warm genug ist, aber schon feucht genug für viele Pilze, die aus dem Boden sprießen. Dann liegt das Albinoschwein, sein Körper versteckt von grünen Bäumen und Büschen, dort und wartet, bis im Regen mal wieder ein Pilz direkt vor seiner Nase aus dem Boden geschossen kommt - wie die Pilze sozusagen! - und dann macht es HAMMS und frisst den Pilz auf. Das ist eine Stelle, da passiert das sooft, dass es sich während der ganzen Regenzeit kaum zu bewegen braucht. Eigentlich gar nicht. Seine Verdauung ist derart auf diese Pilze spezialisiert, dass von den Pilzen am Ende nichts mehr übrig bleibt. Und wie kommt das?
Das liegt daran, dass schon seit Generationen dieses faule Verhalten im Blut des Albinoschweins steckt. Schon sein Vater und sein Großvater lagen dort und fraßen - Happs! - Pilze, die aus dem Boden sprossen.
Einmal, so sagt die Legende, hätte der Urururururgroßvater von unserem heutigen Schwein einen derart verregneten Sommer erlebt, dass er zwei Monate ohne Bewegung ausharren konnte an diesem Fleck. Und ihm - dem Urururururgroßvater von unserem jetzigen Schwein ist es auch zu verdanken, dass ein Albinoschwein tage- und wochenlang auskommen kann ohne aufs Klo zu gehen. Daher kommt der Luxus von unserem faulen Albinoschwein, das da tagelang in der Gegend herumliegt und Pilze frisst.
Ach, was für ein schönes Leben, das das Albinoschwein führt, könnte man jetzt denken. Den ganzen Tag faul in der Gegend herum liegen und fressen. Wie im Schlaraffenland. Ja, könnte man sagen, es ist gar kein Albinoschwein, es ist ein Schlaraffenschwein!
Aber lasst euch nicht den Blick trüben von dieser Woche Luxus – oder auch zwei, je nach Regenperiode! - die das Albinoschwein im Jahr genießt. Normalerweise ist die Nahrungsbeschaffung unseres weißhäutigen Freundes deutlich komplizierter und mit viel mehr Bewegung verbunden. Zum Beispiel im Sommer.
Das wilde Schwein
Im Sommer muss das Schwein umherlaufen und den Boden durchstöbern und da frisst es, was ihm vor den Rüssel kommt. Besonders schön ist es im Sommer, wenn man leckere Blüten aus dem Botanischen Garten essen kann und faule Studenten Picknicks auf der Wiese machen, deren Reste sie nicht verzehren, sondern in Mülleimer werfen oder auf der Wiese lassen. Ganz im Gegensatz zum weitläufigen Vorurteil sind die Studenten eigentlich ganz ordentliche Gesellen, die ihren Müll schön stapeln. Das Chaos auf der Uniwiese liegt nur am Albinoschwein, das später durch die Lande zieht und diese Müllhalden wieder zerstört! Es durchwühlt die Reste so lange, bis es das Beste darin findet und pickt es sich heraus, denn so ein Albinoschwein ist ein Delikatessenesser.
Das Jagdschwein
Wenn es sich gerade nicht von Blüten oder Müllhalden ernährt, dann frisst das Albinoschwein auch mal
ein Eichhörnchen oder einen Hasen. Was der Ottonormalverbraucher gar nicht weiß oder gerne wieder vergisst, ist, dass ein Schwein ein Allesfresser ist. Im Gegensatz zum weit verbreiteten Glauben isst es
nicht vegetarisch, nein, im Gegenteil, es isst auch gerne mal ein frisches Stück Fleisch! Unser Schwein ist ein besonders wildes Schwein. Es galoppiert durch die Gegend, Hügel herauf, Hügel herab, Bergketten entlang, es weicht wilden Fahrradfahrern aus, es springt über Erdlöcher und daher kann es auch einen Hasen jagen, oder, noch besser, ein Eichhörnchen. Hasen jagen ist schwierig, die schlagen so viele Haken, aber Eichhörnchen, man denkt es nicht, sind nicht nur besonders possierlich, sie sind auch besonders dumm.
Sie halten unser Albinoschwein wie viele Menschen für einen Gemüseesser. Dabei stimmt das gar nicht. Ein fataler Fehler! Denn so hat das Albinoschwein ein leichtes Spiel. Es schleicht sich an, relativ laut, denn so ein Schwein, das schleicht sehr schlecht, schleicht sich an das Eichhörnchen ran, wenn es da sitzt und eine Nuss knackt. Das Eichhörnchen hält es für einen freundlichen Gesellen und bewegt sich nicht. Es ist völlig besessen von seiner Nuss! Dann kommt unser Albinoschwein dahergetrottet, reist sein Maul auf und mit einem Happs ist das Eichhörnchen verschluckt.
Das verliebte Schwein
Freilich ist dem Albinoschwein auch die Liebe nicht fremd. Wenn im Frühling die Bäume wieder erwachen und die Blumen sprießen, flattern nicht nur um, sondern auch im dem Schweinebauch die Schmetterlinge. Es wird von einer Hetze erfasst, die es nicht mehr in Ruhe lässt, ein rasendes Toben erfasst es, das nur von einer gestillt werden kann: Anita!
Schwein trifft Anita einmal jährlich und die beiden verbringen die zwei süßesten Wochen. Anita ist ein srilankesisches Austauschschwein. Jahrelang hatte sich Schwein mit dieser Horde von Eindringlingen herum geärgert, die da auf seinen Campus einfielen, sein Futter fraßen und in seinem See badeten. Bis Anita an ihm vorbei galoppierte. Ihre langen schwarzen Haare flatterten im Wind wie eine Woge aus flüssigem Ebenholz, ihr gewaltiger Bauch schwang im Rhythmus ihrer Hufe von links nach rechts und ein glockenhelles Lachen begleitete sie. Schwein war ihr gefolgt wie in Trance, hatte ihre Bewegungen beobachtet und ihren Schweiß gerochen. Doch es konnte sie nicht ansprechen in der Horde von gackernden Schweininnen, mit denen sie immer unterwegs war.
Eines Abends jedoch traf er sie allein. Sie stand auf einem Hügel im Sonnenuntergang und ihre Vorderpfote hatte sich in einem Butterpapier verfangen. Sie schimpfte wie ein Fuhrkutscher, mit verzweifelten Bemühungen schüttelte sie ihren rechten Huf, ächzte und stieß ihn in den Boden, aber das vermaledeite Butterpapier klebte an ihr wie Fliegen an der, naja egal. Da hatte Schwein seine Gelegenheit erkannt: entschlossen war es vorgetreten und stampfte mit seiner Pfote auf das Papier. Anita hatte die Luft eingesogen, als sie ihm in die Augen blickte. Vielleicht war es nur die Aufregung durch die körperliche Anstrengung im Kampf mit dem Butterpapier gewesen, doch Schwein hätte schwören können, dass die zarte Blässe ihrer Wangen durch seinen Blick leicht gerötet wurde. Mit einer federleichten Bewegung hatte sie ihren Fuß von dem liederlichen Papier befreit, das er dann mit einer kräftigen Bewegung seiner Schnauze zur Seite stieb. „Danke schön“ hatte sie gesagt und er hatte geantwortet: „Ich bin Schwein.“ Danach waren sie unzertrennlich gewesen. Er hatte ihr den Campus gezeigt, die Restesammlung der Bio-Cafeteria, die delikaten Ginkobäume, die weiten Felder des Sportzentrums und den verwilderte Garten am Klinikum. Sie hatte ihm von Sri Lanka erzählt und ihm das Lesen beigebracht. Dazu waren sie zum Kindergarten gelaufen und hatten bei den Spielen zugeschaut, wo die Kindergärtnerin Tafeln hochhielt und komische Geräusche dazu machte. Mit Anitas Hilfe hatte Schwein die Striche verstehen gelernt und die Töne, für die sie standen, zu Wörtern zusammen setzen können. Im nächsten Jahr war sie wieder gekommen, und sie hatten weiter gelernt und gespielt. Als sie dabei einmal durch das kleine Waldstück bei der Autobahnbrücke streunten war es passiert. Sie hatten Fang-den-Tausendfüssler gespielt, ein klassisches Schweinespiel, bei dem das eine Schwein den Boden aufwühlt um den Tausendfüßler aus seinem Loch zu locken, und das andere Schwein den Tausendfüßler so lange drangsaliert, bis er in das Maul vom ersten Schwein läuft. Mit viel Gekicher hatte Anita den Boden aufgewühlt, und Schwein stürzte sich voller Elan auf das Krabbeltier als seine und Anitas Rüssel zusammen stießen. Wieder hatte Anita ihren Atem eingesogen als sich ihre Blicke trafen, wieder war sie rot geworden, aber diesmal verzog sich ihre Schnauze zu einem Lächeln. Mit einem saugenden
Geräusch hatten sich ihre Mäuler getroffen, und diesmal war es Schwein, der rot wurde. Ein Schmatzen folgte und ein „Plopp“, als sich ihre Mäuler wieder trennten. Schwein hatte gar nicht reagieren können, er versuchte etwas zu sagen, aber sein Kopf war überfließend voll von Seifenblasen, die zerplatzen, „plopp“, „plopp“, „plopp“. Sie waren einfach wieder zurück zum Campus gegangen, nur diesmal Pfote an Pfote, die weiche Haut ihres Oberschenkels gepresst an seine. Der Kuss hatte sich natürlich wiederholt und erweitert. Das war jetzt vier Jahre her und wiederholte sich jährlich für zwei Monate im Frühling.
Schwein freute sich schon auf den nächsten Frühling. Aber das war noch ein halbes Jahr hin, jetzt galt es erst einmal, die Pilzsaison zu genießen.
Schön ist es hier. Es ist gerade Ende der Regenzeit, drei schöne Wochen hatte es liegen können und langsam wurde es wieder kalt. Es würde sich bald einen Blätterhaufen in der Tiefgarage bauen müssen, wo es sich im Winter gemütlich verstecken konnte, aber noch ist es nicht soweit. Noch liegt es geschützt vor der Sonne unter dem Blätterdach der großen Buche im kühlen Gras. Ein Windhauch streift vorbei und verursacht ein laues Rascheln. Das Albinoschwein schläft ein.
Als es nachts wieder erwacht steht ein Pilz vor seiner Nase. Nicht lange. Der Kopf kippt nach links, der Kiefer klappt auf und mit einem schmatzenden Geräusch, saugend und feucht, wird der Pilz zwischen die Zähne genommen. Mit gewaltigem Schwung schließt sich der Kiefer wieder. Rumms. Der Pilz ist weg, in der Mundhöhle des Schweins, zerdrückt von einer fleischigen Zunge wandert er hinab in die schwarze Magengrube des weißen Schweins. Es rülpst und schläft weiter.
Plötzlich schlägt es die Augen wieder auf. Irgendetwas war. Lärm. Doch welcher? Weder war es ein Auto mit kreischenden Reifen und kreischenden Studenten, noch ein Bus mit alten Menschen, noch ein Sanka der mit Blaulicht zum Klinikum hochjagt. Auch kein Fahrradfahrer, betrunken oder nüchtern, kein Jogger, und beileibe mitten in der Nacht im Oktober auch kein verliebtes Pärchen.
Es war eine Kettensäge.
Mit einer gewaltigen Anstrengung rappelte es sich hoch. Seine Glieder schmerzten, zu lange hatte es auf seiner faulen Haut gelegen, seine Beine waren die Anstrengung nicht ehr gewohnt, die Muskeln waren abgeschlafft, müde, weich. Sein Körper ächzte als es sich unbeholfen in einen watscheligen Galopp aufmachte, gerade noch rechtzeitig bevor der armdicke Ast, den der Gärtner über seinem Kopf abgesägt hatte, ihn treffen konnte. Schwein hörte den dumpfen Aufprall auf der weichen Erde hinter ihm, Angstschweiß trat auf seine Stirn. Doch das Geräusch beschleunigte es, japsend und keuchend machte es sich auf den Weg zum Inneren des Campus. Eine weite Wiese lag vor ihm, und plötzlich wurde es ihm bewusst, wie ungeschützt und offen die Lichtung vor ihm war. Es blieb stehen und blickte sich zitternd um. Wie auf Eierschalen trat es weiter nach vorne. Es war so seltsam, jahrelang war es über die Wiesen gehoppelt, frei und unbekümmert im Sonnenschein, umgeben von Blumen und Schmetterlingen. Plötzlich hatte es Angst. Alles hatte sich verändert. Das Mondlicht war nicht mehr romantisch, sondern kalt und grausam, der Tau auf den Grasstängeln war nicht mehr erfrischend, sondern machte es fröstelnd. „Wo soll ich hin?“ fragte es verwirrt. „Wrrrrrrääähhhhrr,“ gab die Kettensäge zur Antwort, „wrrrrääääähhhrr, wrrrääährrrrrr.“
Schaurige Bilder traten dem Albinoschwein vors innere Auge, Bilder von ihm, erschlagen von einem Ast auf dem Pilzplatz mit gebrochenem Rückrat, oder schlimmer, Bilder davon, wie sich die Kettensäge in seinen weichen Hals fraß, seine Augen ausdruckslos geöffnet, während seine Haut sich langsam rot färbte. Die Schmerzen seiner Muskeln ignorierend lief es weiter, lief zum See um eine Schnnauze voll zu trinken.
„Igitt!“ schoss es ihm durch den Kopf und es spuckte den Schluck Wasser gerade rechtzeitig aus, bevor es seine Kehle runter rinnen konnte. Es schmeckte schal und abgestanden, und als es genauer hinblickte, sah es schleimige grüne Flecken auf der Wasseroberfläche schwimmen. Jetzt war es soweit. Sie hatten den Uni-See vergiftet. Überall am See waren weiße Zettel verteilt und an den Bäumen aufgehängt. Schwein erinnerte sich vage an die Lernspiele mit Anita, bei denen Symbole ausgesprochen und zusammengesetzt wurden. „Aeiou“ machte es, und „be“ und „ha“ und „ka“ und „el“ und „em“. Schwein trottete zu einem der Blätter und beugte sich darüber:
„DAS PRÜFUNGSAMT VERKÜNDET JAGDSAIS O N E R Ö F F N E T“ Jagdsaison? Sowas hatte es noch nie gegeben! Seine Mutter hatte ihm davon erzählt in Gruselgeschichten und als Abschreckung: „Wenn du deine Grütze nicht isst, wird die Jagdsaison
eröffnet,“ hatte sie gesagt zum Beispiel. Jagdsaison, das wären haarige Männer mit Bäuchen und Gewehren, aber das gab es an der Uni nicht. Albinoschweine starben im Schlaf, nach einer langen
Lebensdauer, sie liefen auf den entferntesten Winkel des Unigeländes, legten sich hin und hauchten ihren letzten Atem aus. So war es bei seinem Vater gewesen, und bei seinem Großvater, bis hin zurück zu seinem Urururururgroßvater. Ungläubig las Schwein weiter. „Schweineaufenthaltszeit wird beendet nach Beschlussfassung 7.13, Beschwerden wurden bis vorgestern im Keller des Sammelgebäudes angenommen. Entscheid einstimmig angenommen. Erlaubte Jagdmittel sind Schusswaffen, Speere und Pfeil und Bogen, Kettensägen. Nicht erlaubt: Wurfsterne und Steine. Dieser Zettel wurde maschinell erstellt und ist ohne Unterschrift gültig.“ Mehr stand da nicht. Schwein wusste trotzdem, was das hieß. Die Kettensäge jaulte auf, Schwein bemerkte, dass sie näher gekommen war. Das vergiftete Wasser schien es auszulachen. Die Uni schmiss es raus. Das bedeutete es. Schwein würde gehen müssen Unwiderruflich. Gehen oder Sterben. Nicht Biologie, nicht Theologie, nicht Juristerei würden ihm mehr helfen können. Hätte die Säge es nicht geweckt, wäre es wahrscheinlich gar nicht mehr aufgewacht. Bevor Schwein den Prüfungsämtlern eine Gelegenheit geben würde, ihn zu erschießen, kehrte es der Unikugel den Rücken zu und trottete den Kiesweg entlang, der vom Campus zur Bushaltestelle führte. Vielleicht würde es bei Anita unterkommen können, es wusste es nicht, es war auch egal, es musste weg hier, und nie würde es wieder kommen können. Als es ging, hing sein Kopf kraftlos herunter und seine Ohren wackelten im Takt seiner Schritte. Irgendwann würde es wieder kommen und seine Kinder hire aufziehen. Aber nicht heute.